1952: Fünf Jahre nach der Unabhängigkeit will Indien eine eigene Stahlindustrie aufbauen, um auch wirtschaftlich selbständig zu werden. Die Anlagen für das erste integrierte Hüttenwerk sollen Unternehmen aus Deutschland liefern. Die deutsche Regierung unterstützt das Projekt nach Kräften und finanziert große Teile über Kredite im Rahmen der Entwicklungshilfe. Den Auftrag erhält ein Konsortium, zu dem mit der Siemag, Mannesmann-Meer, der Demag AG oder der Maschinenfabrik Sack auch mehrere Unternehmen gehörten, die heute die SMS group bilden. Das SAIL-Hüttenwerk in Rourkela wird zur Keimzelle der indischen Stahlindustrie, die heute mit einer Produktion von rund 125 Millionen Tonnen pro Jahr die zweitgrößte der Welt ist.

Für viele Mitarbeiter der Unternehmen gehörte das Projekt wahrscheinlich zu den spannendsten Kapiteln ihrer Berufskarriere. Sie bleiben oft mehr als ein Jahr an einem Ort, der für sie damals fast am anderen Ende der Welt lag. Die Mitarbeiterzeitschrift der Siemag berichtet von der langen Reise von Hilchenbach nach Rourkela per Flugzeug und Bahn, der Hitze, dem tropischen Klima und von Sprachproblemen, aber auch von den „schönen und schmackhaften Gerichten“ der indischen Küchen. Zur Freizeitgestaltung hatten die deutschen Unternehmen unter anderem ein Freiluftkino, ein Schwimmbad und einen Fußballplatz eingerichtet.

Das Hüttenwerk Rourkela in den 1960ern.
Inbetriebnahme des Rohrwalzwerks mit dem indischen Premierminister Jawaharlal Nehru.
Premierminister Jawaharlal Nehru während der Einweihung.
Kaltwalzwerk während der Fertigung.
Dressierwalzwerk in Rourkela, 1964.
Die Warmbandstraße wurde von der Demag geliefert (1964).
Das Baubüro der Siemag (1961).
Siemag Fußballmannschaft in Rourkela 1965.

The project company

Das Megaprojekt in Rourkela war sicher aufgrund der Größe und der Dauer von mehr als zehn Jahren etwas ganz Besonderes, aber doch keine absolute Ausnahme. Zu den frühesten internationalen Wegmarken gehören die Lieferung des ersten Walzwerks nach China im Jahr 1904 oder der Auftrag von Alcoa aus den USA für das damals größte Aluminium-Walzwerk im Jahr 1928. In den 1930er Jahren gibt es Großaufträge aus Frankreich und der Sowjetunion, in den 1960 und 70er Jahren realisiert SMS große Turnkey-Projekte etwa in Brasilien, Venezuela oder Nigeria.

1928 lieferten wir das größte Aluminium-Trio-Walzwerk an Alcoa, USA.
1930 lieferte SMS ein Drahtwalzwerk an Laminoirs Tréfileries Cableries de Lens in Frankreich.
Das Drahtwalzwerk bestand aus zwei Vorgerüsten und einer 11-gerüstigen Fertigstraße.
In den 1960ern lieferte SMS ein Elektrostahlwerk an Acos Anhanguera S.A in Brasilien.
Werkseingang bei Acos Anhanguera S.A.
Stahlwerk Acos Anhanguera S.A.
Zwischen 1972 und 1980 lieferte SMS einen kompletten Flach- und Langproduktkomplex an Sidor (Siderurgica del Orinoco) in Venezuela.
Warmbandstraße Sidor.
Grobblechgerüst Sidor.
Baugelände Delta Steel (Nigeria). Die Anlagen gingen zwischen 1977 und 1981 in Betrieb.
Das Werk von Delta Steel bestand aus einem Elektrostahlwerk, Knüppel-Stranggießanlage und einer Profilstraße.
6-Strang Knüppelgießanlage von Delta Steel (Nigeria).

Großprojekte in China

Ein Meilenstein auf dem Weg zum Weltmarktführer im metallurgischen Anlagenbau sind die beiden Großprojekte in Wuhan und Baoshan in den 1970er und 80er Jahren. Die chinesische Regierung will damals im Zuge der Modernisierungspolitik eine eigene Flachstahlproduktion aufbauen und damit der einheimischen Wirtschaft einen Anschub geben. Ihr Verhandlungspartner bei SMS ist Heinrich Weiss, der erst seit kurzem an der Spitze des Unternehmens steht. Er sieht die riesigen Potentiale in dem bis dahin für ausländische Firmen fast unzugänglichen Markt und ist bereit, die wirtschaftlichen Risiken in Kauf zu nehmen. Der Mut zahlt sich aus: die beiden Aufträge zeigen nicht nur, dass man solche Großprojekte stemmen kann, sondern belegen auch, dass SMS technologisch an der Spitze steht. Und sie sind der Grundstock für viele weitere Aufträge in den folgenden Jahrzehnten.

Das Großprojekt bei Baosteel umfasst die Lieferung einer Warmbreitbandstraße und eines Kaltwalzwerks und ist für fast drei Jahrzehnte der größte Auftrag des Unternehmens. Während der Abwicklung verbringen einige hundert SMS-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren Familien zum Teil mehrere Jahre vor Ort. Sie installieren dort fast 100 Tonnen an Komponenten und nehmen die Anlagen erfolgreich in Betrieb. Im Gegenzug kommen während des Baoshan-Projekts über 1.600 chinesische Mitarbeiter zur Überwachung der Fertigung oder für Trainings nach Deutschland.

Bänder und Bleche vom Jangtsekiang: Das Warm- und Kaltwalzwerk bei Baosteel

Projektmanagement im 21. Jahrhundert

Heute gilt für Megaprojekte in der Größenordnung von H2 Green Steel oder thyssenkrupp Steel wie für alle unsere Kundenaufträge der Ansatz: „Project First“. Gewinnen wir einen Auftrag, stellen wir für dieses Projekt ein internationales Team zusammen das für die integrierte Termin- und Ressourcenplanung sowie die reibungslose Abwicklung aller Projektphasen verantwortlich ist – vom Projektstart bis zur Inbetriebnahme. Ein Kundenprojekt bei SMS ist vergleichbar mit einem Unternehmen auf Zeit, bei dem der Projektleiter wie ein CEO agiert.

Um für Kunden der richtige Partner für ihre Investitionen zu sein, haben wir 2022 unser Center of Excellence „Implementation“ gegründet. Durch die Bündelung aller Kompetenzen sind wir in der Lage, anspruchsvollste Projekte umzusetzen, bei denen wir sowohl das Engineering als auch die Beschaffung und Montage aus einer Hand anbieten. Diese unter dem Konzept Engineering, Procurement, Construction gebündelte Projektkompetenz, kurz EPC, ist für uns Differenzierungsfaktor und ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.

Um die internationale Zusammenarbeit auf ein neues Level zu bringen, haben wir zuletzt intern mit der digitalen Transformation alle Weichen gestellt. Das Ziel: eine unternehmensweit abgestimmte Arbeitsweise in einheitlichen Systemen und Prozessen in einer gemeinsamen Sprache. Die Harmonisierung unserer Daten- und Prozessstrukturen wird uns schneller, effizienter und transparenter machen und auch die länderübergreifende Zusammenarbeit vereinfachen.

Unser "Project First"-Ansatz hat sich auch bei einem unserer letzten Großaufträge trotz unvorhersehbarer Schwierigkeiten bewährt. 2019 erteilte uns das US-Unternehmen Steel Dynamics, Inc. (SDI) den Auftrag für einen hochmodernen Flachstahlkomplex mit Elektrostahlwerk, einer integrierten Gießwalzanlage, einer Beiz-/Tandemstraße, einem Offline-Dressierwalzwerk und mehreren Bandbehandlungsanlagen. Die Bezeichnung "Megaprojekt" war angesichts der schieren Größe dieses Standorts auf der grünen Wiese – ein Gelände von 10,5 km², 22.500 Tonnen Baustahl allein für die Gebäude und fast 400.000 m3 Beton – durchaus gerechtfertigt. Insgesamt 330 SMS-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus 21 Ländern waren über einen Zeitraum von zwei Jahren vor Ort tätig, wobei viele von ihnen für die Projektdauer mit ihren Familien in die USA zogen.

Trotz dieser enormen Dimensionen schien SDI ein „ganz normales“ Megaprojekt mit den üblichen Herausforderungen zu werden. Dies änderte sich jedoch nur wenige Monate nach dem Kick-off, als die weltweite COVID-19-Pandemie die Situation schlagartig änderte – beginnend bei den Lieferketten, über temporäre Arbeitseinschränkungen vor Ort bis hin zur Frage, wie man internationale Arbeitskräfte überhaupt in die USA und wieder nach Hause bringt. Zu den generellen wirtschaftlichen Unsicherheiten kamen noch mehrere Wirbelstürme im Golf von Mexiko hinzu. Trotzdem konnte unser Team den Zeitplan aufrechterhalten und trieb das das Projekt kontinuierlich voran. Die SMS-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisteten während des Projekts 150.000 Arbeitsstunden ohne größere Zwischenfälle und setzten die komplexen Anforderungen in diesem Megaprojekt erfolgreich um.

SMS group site camp.
Vorbereitung des Geländes.
Fundamentarbeiten.
Ankunft der Walzenständer.
Walzenständer für das Kaltwalzwerk.
Baufortschritt bei Tag und Nacht.